Ein König im eigenen Heim

Der spastisch gelähmte Sebastian Vollmar arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Seine Mutter Helga hat sie nur für ihn im Erdgeschoss ihres Wohnhauses eingerichtet. Das Projekt wird öffentlich gefördert . Ein Modell für die Zukunft, wie die 68-Jährige findet.

von Aglaia Adam

Es soll ein König werden. Melchior mit pinkem Gewand aus Naturschafwolle. Basti kann sich die Krippenfigur vorstellen, es ist nicht die erste, die in seiner Werkstatt in Schliersee entsteht. Doch jede einzelne ist eine große Herausforderung für den 29-Jährigen. Er hat eine angeborene spastische Lähmung. Die Muskeln in seinem Körper können sich nie ganz entspannen. Seine Hand ist zu einer Faust verkrampft. Claudia Ellmeier nimmt sie, öffnet sie vorsichtig und führt sie an den Griff der Wollmaschine. Die 19-jährige Betreuerin umschließt mit ihrer schmalen Hand Bastis angespannte Hand. Gemeinsam drehen sie die Kurbel, pressen die knallbunte Wolle. Basti hat die Farbe ausgesucht. Er ist fast blind, nur leuchtende Farbtöne kann er sehen. Ganz langsam wird das Pink zu einem dünnen Filzstoff. Es ist nicht wichtig, schnell zu sein, es geht um den Spaß an der Arbeit. Den wollte Helga Vollmar ihrem Sohn endlich ermöglichen. 

Vor zwei Jahren hat die 68-Jährige im Erdgeschoss ihres Hauses eine Behindertenwerkstatt eingerichtet. Die „Josefsthaler Förderwerkstatt“ nur für Basti. Ein einmaliges Projekt in Bayern, das vom Sozialamt im Kreis Miesbach finanziert wird. Basti Vollmar hat lange vermisst, etwas mit Freude tun zu dürfen. Sieben Jahre lang hat er immer gleiche Schrauben ins gleiche Loch gedreht. An seine Zeit in der Behinderteneinrichtung in München erinnert er sich nicht gern. Er saß zwischen geistig Behinderten, dass sein Kopf ganz gut funktioniert, wollte keinem auffallen. Viel zu wenig Personal hatte viel zu viel zu tun. Irgendwann traute er sich nicht mehr, zu sagen, dass er zur Toilette muss, aus Angst, Arbeit zu machen. Panisch befürchtete er einen spastischen Anfall. Er war sich nicht sicher, dass schnell gehandelt würde, dass jemand ihm seine Tabletten geben würde. Vieles war ihm unheimlich in der Einrichtung. Gesagt hat er nie etwas. Die Muskeln zum Sprechen waren oft so verkrampft, dass er kein Wort herausbrachte. Außerdem sah er keinen Sinn im Aufstand: „Ich dachte, es gibt keine andere Möglichkeit als die Einrichtung.“ Heute kommt seine Stimme kaum ins Stocken, heute läuft im Hintergrund Klaviermusik von Bach. Heute ist Claudia da. Heute soll ein König entstehen.

Doch Melchior muss warten. Jetzt will Basti etwas anderes machen. Am liebsten arbeitet er mit Holz. Helga Vollmar schiebt den Schleiftisch in die Mitte der kleinen Werkstatt. Auf zwei Seiten sind Arbeitsflächen, dazwischen ist genau so viel Platz, dass Bastis Rollstuhl gedreht werden kann. Durch die Terrassentür scheint die Sonne, wenn Basti eine Pause braucht, kann er sich in den Garten schieben lassen und dem Plätschern des Baches lauschen, der am Haus vorbeifließt. Bevor Claudia die Schleifmaschine anmacht, warnt sie: „Vorsicht, jetzt wird es laut.“

Die Germanistikstudentin arbeitet seit einem halben Jahr mit Basti und weiß, dass ihn laute Geräusche erschrecken. Sie greift nach Bastis Hand, führt sie an die Maschine heran. Gemeinsam schleifen sie die Buchstütze glatt. Den geschnitzten Steinbock darauf hat Helga Vollmar gemacht. Sie ist stolz auf die Produkte, die in der Werkstatt entstehen. In Glasvitrinen hat sie Vogelhäuschen, Holzspielzeug, Schafwollpüppchen und Mobiles ausgestellt. „Es sind Dinge, die nicht industriell hergestellt gekauft werden können“, betont sie. Nur durch Mundpropaganda erfahren die Leute von der Werkstatt. In Massen könnten Basti und seine Helfer nicht produzieren.

Helga Vollmars handwerkliches Geschick war eine der Voraussetzungen, den Alptraum öffentliche Einrichtung für Basti zu beenden. Die andere war ihre Beharrlichkeit. Sie hat das Konzept eigene Werkstatt selbst entwickelt. Rund 8000 Euro kostet ein Platz in einer Einrichtung. Zu Hause geht es billiger, wusste Helga Vollmar, zumindest dann, wenn man so wie sie bereit ist, die Pflege zu übernehmen. Das örtliche Sozialamt war zunächst skeptisch. „Es gibt genügend Einrichtungen.“ Diesen Satz hörte Helga Vollmar unzählige Male. Sie durchforstete Paragraphen, fand heraus: „Ambulant geht vor stationär.“ Heute bekommt sie monatlich 1500 Euro für Material und Personal, eine Grundrente von 600 Euro und Pflegegeld von 600 Euro. 

Helga Vollmar glaubt, was sie auf die Beine gestellt hat, könnte Modellcharakter haben. Eine Altenpflegerin, eine ehemalige Taxi-Fahrerin, ein älterer Herr und drei Studenten kommen stundenweise auf Mini-Job-Basis. Auf die Fachausbildung kommt es Helga Vollmar nicht an. Wichtig ist ihr, wie die Menschen mit ihrem Sohn umgehen. Sie selbst hat einen 24-Stunden-Job. Basti lässt sie nur ungern aus den Augen. Vor einigen Jahren hatte er in der Nacht einen Herzstillstand. Sie hat schnell reagiert, ihn wiederbelebt. Seitdem schlafen die beiden im Wohnzimmer. Sie auf dem Sofa, er über Eck auf einem Bett. Auch jetzt hat sie ihn im Blick. Claudia schiebt seinen Rollstuhl ins Bad. Helga Vollmar steht in der Küche. Durch ein Fenster in der Wand sieht sie auf die Badewanne und auf die Lift-Konstruktion, in die Basti eingehängt wird, wenn er aufs Klo muss. Türen gibt es im Erdgeschoss des Hauses nicht. Claudia hievt Basti aus dem Rollstuhl, hängt seinen Oberkörper in die Schlaufe, die von einer Schiene an der Decke baumelt. Vorsichtig schiebt die zierliche Studentin ihn zur Toilette. Basti versucht, mit den Füßen, die in warmen Hausschuhen aus Filz stecken, mitzuhelfen.

Jeden Winkel im Haus hat Helga Vollmar genau geplant, als sie es vor neun Jahren gebaut hat, für sich und Basti. Ihre anderen drei Kinder sind lange aus dem Haus. Tobias, der Älteste, und Friederike, die einzige Tochter, sind mit 18 Jahren ausgezogen. „Ihnen wurde alles zu viel“, glaubt Helga Vollmar. Wenn die Freunde in die Disko gingen, mussten sie oft auf ihren behinderten Bruder aufpassen. Heute sind sie 40 und 31 Jahre alt, Anwalt und promovierte Biologin. Nur Christian, der sieben Jahre älter ist als Basti, suchte immer den Kontakt. Er ist ein wichtiger Mensch in Bastis Leben. Viele Freunde hat der Spastiker nicht. Zwar schreibt er einigen aus seinem früheren Heim Briefe. Doch bald musste er erkennen: Freundschaften zwischen Behinderten sind schwierig. „Jeder ist sehr mit sich selbst beschäftigt“, findet Basti. Zur Zeit arbeitet sein Bruder Christian als Neurologe in London, kommt aber oft zu Besuch. Er hat den Beruf seiner Mutter gewählt. Sie musste Vollzeit arbeiten, um ihre vier Kinder durchzubekommen. Kurz nach Bastis Geburt verließ der Vater die Familie. „Der hat eine Jüngere gefunden, ohne behindertes Kind“, sagt Helga Vollmar.

Eine Medizinerstelle bekam die Ärztin nicht mehr mit vier Kindern. Sie siedelte in die Pflege über, behandelte Unfallpatienten, die oft lange im Koma gelegen hatten und wie Säuglinge von vorne anfangen mussten. Helga Vollmar lernte, die kleinen Fortschritte zu schätzen, nicht nur in der Klinik, auch zu Hause. Die meisten Falten in ihrem Gesicht kommen vom Lachen. Ihre grauen Locken versucht sie, in einem Zopf zu bändigen. Jung, beweglich, aktiv wirkt die 68-Jährige in ihren bequemen Baumwollhosen und dem T-Shirt. Doch wenn sie über ihre Gesundheit spricht, senkt sie die Stimme. Sie möchte Basti nicht belasten. „Ich bin nicht gesund “, sagt sie. Eine Autoimmunkrankheit hat den Herzmuskel entzündet. Manchmal hat Helga Vollmar Angst, die Zeit könnte ihr nicht mehr reichen. Ihr Ziel ist es, die Werkstatt so aufzubauen, dass sie ohne ihre Hilfe weiterfunktionieren wird. So weit ist sie noch nicht. Deshalb hat sie Basti in einer anthroposophischen Dorfgemeinschaft angemeldet, sollte ihr etwas zustoßen. Doch darüber will sie jetzt nicht nachgrübeln. 

Basti hat wieder seine rote Schürze an. Claudia nimmt Pfeifenputzer aus einem der Materialkörbe. Formt den König, legt Basti die Wolle zwischen die Finger. Beide haben sich nach vorne tief über den Tisch gebeugt. Die Studentin führt Bastis Hand vorsichtig. Gemeinsam umwickeln sie das Gerüst. Hand in Hand schweigen sie, ganz auf Melchior konzentriert. Und langsam werden Konturen sichtbar: Kopf, Arme, Körper. Claudia betrachtet die Figur nachdenklich. Sie formt eine winzige Kapuze aus der pinken Wolle. Ein kehliges Lachen gurgelt aus Bastis Mund. Er setzt dem König behutsam die Krone auf.

Aglaia Adam war Volontärin beim "Münchner Merkur" in der Lokalredaktion Miesbach als sie die Reportage "Ein König im eigenen Heim" schrieb. Der Text entstand im Rahmen des Seminars 08-195 im September 2008 in der ABP.