Kohleöfen wird es bald nur noch in Schwarz-Weiß-Filmen geben

von Ulrich Wangemann

Die roten Marlboro-Schachteln sind überall. In der Kartentasche, zwischen den Pedalen, auf den Lüftungsschlitzen für die Frontscheibe, in der Tachoversenkung des Armaturenbretts und in Martin Wonnebergers Brusttasche. "Des is a Kohlenlaster", brummt der 47-Jährige und ascht in den Fußraum. Fahrtwind pfeift durch die Türdichtungen und teilt die Kabinenluft in ein glaskaltes Unten und ein verqualmtes Oben. Der zersprungene Seitenspiegel scheppert an die Beifahrertür, als Wonneberger den Mercedes-Pritschenwagen eine Hangstraße hinaufquält. Zweieinhalb Tonnen Briketts, fünfzehn Prozent Steigung, sechzig Pferdestärken. Ein unfairer Kampf. Wonneberger ahnt es: Der TÜV wird seinem treuen Klepper demnächst den Gnadenstoß versetzen. Ein neues Fahrzeug wird die Firma nicht anschaffen. Es lohnt sich nicht mehr für die wenigen Kunden. Eine jahrhundertealte Heiztechnik stirbt aus. Der Kohle hält nur noch die Treue, wer tief im Kohlenzeitalter auf die Welt kam: die Alten. Wonneberger wird sich eine neue Arbeit suchen müssen. Der Kohlenlaster wird nur in Schwarz-Weiß-Filmen und Kinderbüchern weiterleben.

Franziska Werner wartet hinter dem Küchenfenster auf den Kohlenmann. Ihre rosa Hausschürze verschwindet aus dem dunklen Viereck, als Wonneberger den Wagen in die Einfahrt zieht. Ein für Starnberger Verhältnisse ärmliches Haus. "Ich hab alles frei geräumt, dass Sie nicht mit mir schimpfen", begrüßt sie den Mann mit dem rußverschmierten Fleeze-Pulli. "I schimpf doch koane Leut net", beruhigt sie der Brummbär und tritt mit seinen Stahlkappenschuhen gegen den verklemmten Verschluss der Ladebordwand. Dann schultert er einen der Zentnersäcke und trottet ins Haus. In der Küche bullert ein weißer, altertümlicher Herd: ein Wamsler. Bettzeug brodelt in einem Kochtopf vor sich hin, auf dem benachbarten Küchentisch liegt ein Heft mit Kreuzworträtseln.

 "Ich heize seit 80 Jahren mit Kohle, und der Herrgott wollte es, dass die Glut nie ausgegangen ist", sagt die Rentnerin und durchsucht ihre Schürzentasche nach einem Kugelschreiber. Wonneberger hat keine zehn Minuten gebraucht, um die sechs Zentner in den Bretterverschlag zu schütten. Staub hat sich in seine Gesichtszüge gesetzt. Sein struppiges, dichtes Haar sitzt auf seinem Kopf wie ein brauner Hut. Franziska Werner malt ihren Namen in Sütterlin unter die Rechnung und drückt dem Kohlenmann einen Fünf-Euro-Schein in die schwarze Pranke. Er überreicht ihr einen Werbekalender. Das Matterhorn umrahmt von Fingerhut. Bald ist Weihnachten.

Wonneberger hängt über dem Lenkrad wie ein Kneipengast über dem Tresen. Den linken Arm quer drüber, den rechten Ellenbogen auf den unteren Rand gestützt, die Faust unter dem unrasierten Kinn. Seit kurz nach Fünf ist er auf den Beinen. Er hat zwei Jobs. Die Woche über schneidet er Marmor zu für einen Steinmetz, Freitagnachmittag fährt er Kohlen aus. Ein Metermaß ragt aus der Seitentasche seines Blaumanns. Sieben Jahre schon hat die Kohlenfirma keinen festen Fahrer mehr. Es gab nichts zu tun. 250 Kunden brauchen keinen Rundumbetreuer.

Paul Sachse empfängt den Kohlenmann am elektrischen Garagentor. Der Ruheständler hat sein Geld als Fabrikant von Plastikordnern verdient und sich eine Villa davon gebaut, am Hang über dem Starnberger See. Die Arme über seiner abgesteppten Jagdjacke verschränkt, zählt er die angelieferten Pakete. Wonneberger tippt sich mit dem Daumen an die Brust: "Kopfrechnen schwach, in d'Wirtschaft-Geh'n regelmäßig". Sachse quält sich ein Lächeln ab. Im Wohnzimmer streicht eine Langhaarkatze gähnend um den Ofen aus weißen, mit Muschel-Halbreliefs verzierten Kacheln. Vor zwanzig Jahren hat Sachse ihn einbauen lassen, zusätzlich zur komfortablen Zentralheizung. "Meine Frau und ich können diese Warmluftheizung nicht ausstehen", sagt er und wischt mit dem Hausschlappen über ein Luftgitter im Parkett. "Die jungen Leute wissen ja gar nicht mehr, wie man anheizt", bedauert er. Vier Briketts und zwei gefaltete Zeitungen obendrauf, dann hält die Glut bis zum nächsten Morgen. Wissen, das verloren geht.

"Wos sagn's?" Vielleicht ist der voll aufgedrehte Fernseher schuld daran, dass Sophie Rößner den Kohlenmann nicht versteht. Vielleicht sind es auch ihre neunzig Jahre. "...Ein Bankräuber hat am späten Nachmittag in Potsdam zwei Personen in seine Gewalt gebracht..." Wonneberger wiederholt seine Frage. In den Schuppen sollen die drei Zentner. Zwei Teller mit mundgerecht zerschnittenem Brathering stehen auf dem Tisch der winzigen Küche. Abendbrot. Auf einer elektrischen Heizrippe liegen Semmelhälften mit dem Gesicht nach unten. "Jetzt, wo's kalt werd, reicht der Heizer nimma", sagt die alte Frau mit den Lockenwicklern. Sie nimmt ein milchiges Glas mit perlendem Wasser vom Beistellherd neben der Spüle und nippt daran. "I trink's net so gern kalt." Die Rößners könnten beim Sozialamt Heizkostenhilfe beantragen. Vergangenes Jahr haben 63 Menschen in der Millionenstadt München sich die Kohlen von der Stadt bezahlen lassen. "Solang mir no a bisserl was habn, zahlen mir's selbst", sagt Sophie Rößner und kramt hundert Euro aus einer Schublade. Alte Leute zahlen gern bar.

"Des san meine Kunden", sagt Wonneberger nachdenklich, als er das Gartentor schließt. Wenn das alte Ehepaar stirbt, wird das Hutzelhäuschen im Münchner Stadtteil Perlach einem Neubau weichen, da ist er sicher. "Oans mit a richtigen Heizung." Und so schrumpft die Kundschaft jedes Jahr. In einigen Monaten schließt der Großhändler sein Münchener Kohlenlager. Woher Wonneberger dann Briketts bezieht, weiß er noch nicht. Sein Chef hat jedenfalls schon klar gestellt, dass er den Pritschenwagen nicht für ein paar Zentner nach Nürnberg schicken wird, wo der Betrieb noch eine schwarze Halde weiterbetrieben will.

Aber Wonnebergers nahe Zukunft wird jetzt von der Aussicht auf ein heißes Schaumbad beherrscht. Er hat inzwischen eine schwarze Maske auf, aus der eigenartig seine blauen Augen hervorstechen. Fünf Tonnen Kohle hat er bewegt, den Staub der Säcke und Keller eingeatmet. "Zwoamal durchrotzen, dann geht's scho wieda", sagt er müde und zieht eine Marlboro aus der Packung. Es ist die letzte. Die Schachtel hat sich schon im Fahrerhäuschen umgesehen: Neben der Handbremse ist noch ein Plätzchen frei.


Die Reportage gewann den ABP-Reportagepreis 2002 Sie beschreibt den letzten Kohlenausfahrer Münchens. Autor Ulrich Wangemann war damals Volontär und ist heute Redakteur bei der Märkischen Allgemeinen in Potsdam.