Der verrückte Weiße mit dem Skalpell
Dr. Rudi Unterthiner behandelte sie alle: die Stars in Hollywood, die armen Landarbeiter in Mexiko und nun die We-Wai-Kai-Indianer vor Vancouver Island.
von Klaus Innerhofer
Vancouver – An manchen Tagen hasst Johnny Chikite seinen besten Freund. Er kann es nicht leiden, wenn Rudi das kalte, kreisrunde Ding wie eine Schachfigur auf seiner haarlosen Brust bewegt. Und er hasst diesen wachsenden Druck am tätowierten Oberarm, als wollte ihm ein Grizzly seinen Lebenssaft aus den Adern pressen. Nein, Johnny ist kein Freund von Stethoskop und Blutdruckmanschette, das ist das Teufelszeug der „Nunutlu Manmakla“, der verrückten Weißen. Johnny Chikite ist Fischer, wie seine sieben Brüder und wie es sein Vater und dessen Vater waren. Eine Arztpraxis hat der We-Wai- Kai-Indianer auf Quadra Island in British Columbia noch nie von innen gesehen. Und wenn dem Zweimetermann mal wieder schwindelig wird, was letzthin öfter passiert, dann ist der größte aller Kompromisse ein Besuch bei Rudi, den Johnny und seine Brüder ihren Schamanen nennen.
Dr. Rudi Alan Unterthiner empfängt die We Wai Kai in seinem dreistöckigen Holzhaus aus gelber Kanada-Zeder, am Giebel verziert mit indianischen Totems, dort, wo 30 Meter weiter unten die Fähre Richtung Festland ablegt. Die Diagnose in dem kleinen, mit medizinischer Fachliteratur vollgestopften Visitenzimmer gibt Anlass zur Sorge: 180 zu 120, stark erhöhter Blutdruck. „No good, Johnny.“ Damit bekäme der 140-Kilo-Mann, der Elvis Presley in seinen finalen Jahren nicht unähnlich sieht, niemals die Verlängerung seines Kapitänspatents. Fischerei ade – und damit die Lebensgrundlage. „Verdammt, Rudi, ich mache was du willst, aber hilf mir!“, raunt der angegraute Mittsechziger. „Okay Amigo, keine Panik.“ Rudi wird helfen, so wie er es immer getan hat. Bei Johnny mit Blutdrucksenkern der jüngsten Generation, bei dessen Bruder Dick mit guten Beziehungen zu den Mächtigen des Kontinents. Nachdem sich der Verdacht auf Prostatakrebs bewahrheitet hatte, hätte Dick acht Monate auf die Operation warten müssen – sein Todesurteil. Unterthiner intervenierte beim Gouverneur, worauf Ärzte im Vancouver General Hospital schon zwei Wochen später Dicks Vorsteherdrüse samt Krebs entfernten und ihm das Leben retteten.
Leben retten als Lebensziel
Leben retten – das wollte Rudi Unterthiner, seit er denken kann. Seine Kindheit in Sterzing war vom Krieg geprägt und von dem, was übrig blieb: Verwundete, Versehrte, Verkrüppelte. Die wollte er heilen. Doch dazu kam es nicht. Und ehe er zu einem der berühmtesten Schönheitschirurgen Hollywoods aufstieg, erlebte der junge Rudi eine Odyssee an menschlichen Höhen und Tiefen. Mit dem Lehrergehalt des Vaters reichte es für den Buben gerade einmal für die Pflichtschule, nicht für das Gymnasium. Da beschloss er, 14-jährig, sich an der kostenlosen Militärakademie Nunziatella in Neapel einzuschreiben, 900 Kilometer von seiner Heimat entfernt. Dort wurde der schlecht italienisch sprechende Junge mit den blonden Haaren argwöhnisch beäugt und als „Crucco“ verspottet. So hatte der junge Mann aus Südtirol nach bestandener Matura erst recht keine Lust, dem Einrückungsbefehl des italienischen Heeres zu folgen. In einer Vollmondnacht im September 1956 floh Rudi stattdessen mit seinem Rucksack und einem Freund, dem Steckholzer Sepp, über die Br ennerg r enze nach Österreich. Über Innsbruck reiste er mit der Bahn in die Steiermark nach Leoben. Dort, so hatte er gehört, zahlte man gutes Geld für die Arbeit in einem Kohlebergwerk.
Knochenarbeit im Bergwerk
An einem bitterkalten Montagmorgen im Oktober begann Unterthiner seinen Dienst unter Tage. Als er zur Nachtschicht antrat, fühlte er sich wie auf einem Friedhof. Es war die Hoffnungslosigkeit, die sich in die unrasierten Gesichter der Bergarbeiter gegraben hatte. Er mühte sich in den Arbeitsanzug, dessen Ärmel und Hosenbeine vom Kohlenstaub so steif waren, dass sie wie Ofenrohre aussahen. Dann setzte er wie alle seinen Helm auf, trat in die beißende Kälte der Nacht hinaus und stapfte durch den Schnee. Unter Tage kauerte Rudi am schmalen Ende eines Erkun- dungsstollens und scheiterte auch beim dritten Versuch, mit dem Pressluftbohrer eine Röhre in den Fels zu brechen, dort wo sein älterer Kollege Willi die Dynamitstange platzieren sollte. „Vielleicht lernst du’s ja noch, wie man’s gleich auf Anhieb schafft. Hast ja noch Zeit, dein ganzes Leben lang“, höhnte Willi.
Ein halbes Leben später ist Rudi Unterthiner in Amerika sesshaft, und das gleich vier Mal. Er hat ein Haus in Santa Barbara, eine Villa in Palm Springs, einen Landsitz im mexikanischen San Felipe und seine Farm auf Quadra Island, gut fünf Autostunden nordwestlich von Vancouver. Dennoch ist der Arzt im Ruhestand bescheiden geblieben: kein 20-Zimmer- Ansitz, keine Maßhemden mit Monogramm, kein Dienstpersonal, kein Bentley in der Garage, stattdessen vier baugleiche VW Jetta TDI, verteilt auf seine vier Wohnorte. Weil man mit einer Tankfüllung an die 700 Kilometer weit kommt. Die 16-Meter- Yacht Ocean Alexander ist der größte Luxus, den sich Rudi gönnt. Johnny Chikite legt den blank polierten Gashebel nach vorne, die 750 PS starken Motoren antworten mit dumpfem Grollen. Der Fischer hat den Autopiloten abgeschaltet; er fährt lieber auf Sicht. An der Küste lauern Untiefen, weiter draußen die starken Strömungen. Rudi steht hinten auf der Plattform und hält – einem Feldherrn gleich – mit seinem Swarovski-Präzisionsfeldstecher nach wilden Tieren Ausschau. Er sieht jünger aus als andere 71-Jährige, in seinen Cargopants und mit dem handgestrickten, schafwollenen Sarner-Janker. Das markante Kinn zeugt von Durchsetzungskraft, die kleinen blauen Augen sind wach und neugierig, die angegrauten Haare fallen in dem semmelblonden Schopf kaum auf. Rudi liebt das monotone Rauschen seiner Yacht, er liebt die dichten Zedernwälder und ihre scheuen Bewohner: Rehe, Luchse, Pumas, Wölfe, Schwarzbären und manchmal Grizzlys. Obwohl Unterthiner seine Yacht selbst steuern könnte, hat er keinen Bootsführerschein. Seine Leidenschaft ist das Fliegen, eine Liebe, die ihn beinahe umgebracht hätte.
Das Fliegen hätte ihn beinahe umgebracht
„Ocho vezes, Gringo.“ Acht mal müsse er pumpen, dann könne er die Stearman starten, riefen ihm die mexikanischen Landarbeiter auf dem Weizenfeld mitten im Nirgendwo von Idaho zu. Der 22-jährige Rudi hatte eben erst den Flugschein in Spokane/Washington gemacht, aber mit einem offenen Doppeldecker war er noch nie geflogen, und als „Crop duster“, als Agrarflieger schon gar nicht. Jetzt saß er im Cockpit und spürte sein Herz im Hals, ein dumpfes, wildes Pochen, als wollte es sagen: Tu‘s nicht, kehr um! Rudi wollte schon aussteigen, aber er schämte sich vor den illegalen Campesinos. Dann schob er den Gashebel nach vorne und hob ab, zog seine Runden über den endlosen Feldern und landete sicher. Später flog er nachts über Obst- und Gemüseplantagen, weil er dafür sagenhafte 18 Dollar pro Stunde bekam, gutes Geld in einer schlechten Zeit. Malathion hieß das Insektizid, das nicht nur alles kriechende Getier umbrachte, sondern beinahe auch Rudi. Er erkrankte schwer an chemischer Hepatitis und hat es nur dem Mitgefühl einer Barfrau zu verdanken, dass er noch lebt. Sie fütterte ihn zwei Monate mit Suppe durch und ließ ihn auf den Ausnüchterungsbänken hinten im Saloon schlafen. Er zahlte es ihr nach überstandener Krankheit mit dem doppelten Preis für Kost und Logis zurück. Ein unschönes Andenken ist Unterthiner dennoch geblieben, seine Schwerhörigkeit. Was damals keiner wusste: Das Gift zerstört beim Menschen das Trommelfell. Mit der Fliegerei und einem der wenigen heiß begehrten Fulbright-Stipendien finanzierte sich der fahnenflüchtige Südtiroler später sein Arztstudium am Carleton College in North- field/Minnesota. Nach einem Jahr sollte er zurück, so wollte es das Austauschprogramm. Zurück nach Italien hieße Gefängnis.
Zwei lange Jahre im Untergrund
Also tauchte Rudi unter, lebte zwei Jahre in panischer Angst vor der Einwanderungsbehörde, schlief in seinem Auto auf täglich wechselnden Parkplätzen und verbrachte acht Monate in einem fensterlosen Wellblechcontainer. Dort übte er Nacht für Nacht die amerikanische Aussprache, indem er laut die Zeitung las. Niemand sollte merken, dass er kein waschechter US-Bürger war. Tagsüber verdingte er sich als Skilehrer und lernte dabei zufällig Robert Kennedy kennen, den Bruder des späteren Präsidenten. Der half ihm, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Was dann kommt, ist eine Erfolgsgeschichte, die wohl nur in Amerika geschrieben werden kann. Unterthiner will zuerst Neurochirurg werden, wechselt dann aber in die plastische Chirurgie, als es ihm gelingt, einem achtjährigen Jungen die Hände wieder anzunähen, mit denen dieser in den Rasenmäher seines Vaters geraten war. Die Schönheitschirurgie bringt ihm prominente Kundschaft. Auf die Klinik in Lancaster folgt eine in Beverly Hills und noch eine in Palm Springs. Alle wollen sich von Doc Rudi liften lassen. Nur die Society-Partys sind nicht das Terrain des Starmediziners; die Hollywood-Schickeria nennt ihn spöttisch „das Phantom“. Obwohl er über seine Patienten nicht spricht, sind die Zeitungen voll davon, wen er unter dem Messer hat: Dean Martin, Kirk Douglas, Charles Bronson, Brigitte Bardot, Rachel Welsh und natürlich Frank Sinatra, den Taufpaten von Unterthiners indianischer Frau Lynda vom Stamm der Ute in Colorado.
Hollywood nennt ihn spöttisch „das Phantom“
Sie heiratet er vom Untersuchungstisch weg und zeugt mit ihr drei Kinder, Shane, Robin und Pilar. Shanes Sohn macht heute als Jesse James in Hollywood Karriere. Auch politisch gräbt sich der ehemalige Kumpel aus dem Voest- Alpine-Werk Leoben nach oben durch. Eigentlich will er sich nur vor Vietnam drücken und tritt als Reservist in die Air National Guard ein. Dort fällt der mittlerweile fließend sechs Sprachen sprechende Arzt dem damaligen Präsidenten Ronald Reagan auf. Zeitungen munkeln, er hätte auch Mr. President und der First Lady die Sorgenfalten aus dem Gesicht geschnitten. Reagan holt Unterthiner ins Weiße Haus und will ihn zum US-Botschafter in Rom befördern.
Reagan macht Unterthiner zum Sonderbotschafter
Der Chirurg lehnt ab und wird Sonderbotschafter für Europäische Angelegenheiten und OSZE-Beobachter, Ämter, die er ausüben kann, ohne seinen Arztberuf aufgeben zu müssen. Vielleicht ist es das Gefühl, als Schönheitschirurg nicht der Ethik des Arztberufes zu entsprechen. Jedenfalls fliegt der Mediziner mit Diplomatenpass in seiner Cessna 27 Jahre lang jeden letzten Freitag im Monat nach Puertocitos, einem Fischerdorf in der mexikanischen Baja California, um dort übers Wochenende als Allgemeinmediziner kostenlos Kinder zu entbinden, Lungen- und Zuckerkranke zu behandeln. Babys mit schweren Geburtsfehlern wie Hasenscharten oder Trichterbrüsten nimmt er mit in die USA und operiert sie dort.
Zuhause auf der kanadischen Farm in Quadra Island
„Aua!“ Carleen ist nicht wehleidig, aber die aufgequollene Zunge fühlt sich an wie ein triefnasser Waschlappen. Als wolle man ihr einen Knebel in den Mund stecken, ringt Johnnys Schwester um Luft. Rudi nestelt an seiner haselnussbraunen Arzttasche und zieht eine Spritze mit Adrenalin auf, die er der dickleibigen Frau in die Armbeuge setzt. In ein paar Stunden wird sie sich besser fühlen. Dann wird die Schwellung zurückgegangen und der Wespenstich nur mehr als Jucken spürbar sein. Carleen ist der schwerste Fall, mit dem sich Rudi Unterthiner an diesem Tag in Quadra herumschlägt. Danach wird er auf seine Farm fahren und die drei Ziegen, 22 Hühner und 13 Gänse vor dem Angriff blutrünstiger Nerze schützen. Die beißen dem Federvieh aus purem Tötungsinstinkt den Kopf ab, seinen „girls“ und „ladies“, wie Rudi die Tiere jeden Morgen liebevoll begrüßt. Ob er hier in Kanada angekommen sei, oder ob er die Mistgabel noch einmal mit dem Skalpell in Hollywoods Glitzerwelt tauschen würde, fragt Carleen, bevor sie die Stufen von Rudis Blockhaus hinabsteigt. Rudi lacht: „Tauschen, nein. Aber angekommen? Nie! Wenn du angekommen bist, dann bist du tot.

Klaus Innerhofer ist Chefredakteur des Südtiroler Sonntagsmagazins "Zett".