Das Powerhaus ist anderswo
Ein Mann beim Pilates - oder: der Selbstversuch eines Untalentierten
von Bernd Salamon
Omi Antje hat mir den Tag gerettet. War für mich da, als es drauf ankam. Hat mir einen Weg aus meiner Depression gezeigt. Gerade bin ich dabei, mich mit meinem Schicksal abzufinden, da kommt sie auf mich zu. Omi Antje ist 68 und sehr lebenslustig, sie hat graue, flott auf kurz gestylte Haare, hell leuchtende blaue Augen, trägt weiße Turnschuhe, wie sie Teenies tragen. Bestimmt hat sie sieben Enkelkinder und wird von allen gemocht, ach was, geliebt und vergöttert, weil sie immer tolle Sachen mit ihnen unternimmt wie Wellenreiten oder Achterbahn fahren. Omi Antje jedenfalls kommt auf mich zu und sagt: „Kopf hoch, mein Junge, das wird schon. Du bist kein hoffnungsloser Fall."
Genau das habe ich jetzt gebraucht.
Eine Stunde vor Omi Antjes guter Tat hat meine Welt noch ganz anders ausgesehen. Ich krieche auf einer blauen Matte umher, strecke und biege und frage mich, warum ich ausgerechnet heute einen Anflug von Entdeckungsgeist bekommen musste. Probier's doch mal mit Pilates, hat eine Freundin mir gesagt. Das ist voll im Trend, gut für den Rücken. Den ganzen Körper. Den Geist. Die Seele. Und für Sex, denn wer seinen Körper und seinen Geist und seine Seele gut kennt, kann das eine viel besser genießen. Spätestens hier hatte sie meine Neugier geweckt.
Ich habe mich also aufgemacht und bin in ein Fitnessstudio marschiert. Morgens um halbneun, wo ich normalerweise noch im Bett liege oder mich mit hängenden Schultern und leisen Grummelgeräuschen überm Nutellatoastbrot über die Uhrzeit und die Welt ärgere. Ich habe mich einer Pilates-Trainingsgruppe angeschlossen und mich für eine Stunde in die Frauenwelt gewagt. Echte Männer machen so was ja nicht. Ich schon. Probier mal was Neues. Keine schlechte Idee.
Ina ist hier der Boss
Im Studio angekommen, sehe ich das anders. Schon der Übungsraum gefällt mir nicht. Ein riesiger Spiegel auf der einen Seite, Fenster auf den drei anderen. Jeder kann mich sehen, ob von drinnen oder draußen. Ich schaue mich um und sehe eine Omi. Sie hat sich ihre blaue Matte geholt und in die hinterste Ecke verdrückt, möglichst weit weg vom Spiegel und der Trainerin. So mache ich es auch, platziere mich strategisch geschickt links neben ihr. Jetzt kommt Ina, und gleich ist klar: sie ist hier der Boss. Laut ist ihre Stimme, die 41-Jährige übernimmt sofort das Kommando. Ina ist eine von den Frauen, die unheimlich anstrengend sein können. Die morgens um neun schon hyperwach und hypermotiviert sind. Die den Tag schon jetzt unendlich toll finden, weil ja jeder Tag ein toller Tag ist.15 Frauen besuchen heute Inas Kurs, die jüngste ist 19, die älteste die nette Omi, die meisten dürften zwischen 25 und 40 sein. Normal sehen sie aus, nicht dünn, nicht dick, nicht happy, nicht traurig. 15 Frauen also. Und ein Idiot. Der Idiot bin ich.
Zehn Minuten die Macho-Stellung
Als das Training beginnt, Bongo-Klänge ertönen, fällt mir auf, dass alle ihre Schuhe brav neben die Matten gestellt haben. Aha, trainiert wird ohne. Immerhin, das kriege sogar ich hin. Jetzt legt Ina los. Mit ihrer Weltverbesserungsstimme plädiert sie für gute Laune, ein tolles Erlebnis, was wir alle gemeinsam genießen werden. Fast alle. Los geht's. Dehnen sämtlicher Körperteile. Im Stehen. Den Frust von sich schütteln. Die Arme von sich strecken. Wild sein. Alles rauslassen. „Geht's Euch schon gut?" Nein, Ina, danke der Nachfrage. Ich sehe mich im Spiegel, bin drei Köpfe größer als die größte Frau hier und mache unkoordinierte Bewegungen, die unkoordiniert aussehen. Wie bitte soll's mir da gut gehen? Jetzt runter auf die Knie. Po raus und strecken, Po rein und wiederholen. Die Macho-Stellung. Zehn Minuten wird gedehnt und gestreckt, dann geht's los, sagt Ina. Und ich dachte, wir wären schon mittendrin.
Suche Dein Powerhaus
Die erste offenbar richtige Übung ist im Liegen, auf dem Rücken. Wir sollen unser Powerhaus finden. Ich schaue fragend rüber zu meiner Omi. „Unser was?" Sie lächelt mich an. „Die Körpermitte, Junge, um die geht's hier immer." Aha. Und wo ist die? Schon kommt Ina, erklärt's mir. Bauch einziehen beim Einatmen, Pobacken zusammenkneifen, Beckenbodenmuskulatur anspannen. Bauch raus beim Ausatmen, Pobacken zusammenkneifen, Beckenbodenmuskulatur anspannen. „Das Becken anspannen. Immer das Becken anspannen." Als Nächstes tun wir's im Sitzen. „Prima macht ihr das", lobt Ina. Lügnerin! Sie kommt zu mir. „Suche Dein Powerhaus. Suche Dein Powerhaus." Sie fasst mir an den Rücken, versucht, mich aufrecht hinzusetzen. Ich dache, das täte ich. Sie schiebt mich hoch, mein Becken macht nicht mit, schiebt sich von allein wieder runter. Zweiter Versuch. Wieder nix. Dritter. Nix. „Mach schon, du bist doch noch jung", brüllt Ina. 15 Frauen lachen. Ist der doof. Wir haben unser Powerhaus ja längst gebaut. Meins ist anderswo. Auch die nette Omi schmunzelt.
Selbst die Omi hat mehr drauf
In diesem Rhythmus geht es weiter. Arme, Beine und sämtliche Muskeln dehnen und strecken, Powerhaus finden und halten. Ob im Liegen, im Sitzen, auf dem Bauch oder dem Rücken. Eine Übung ist besonders bitter. Für mich zumindest. Auf dem Rücken liegen, das eine Bein liegt flach, das andere geht hoch zur Decke, mit durchgedrückten Knien. 90 Grad sollen es werden. Ich schaue um mich. Die ersten sind bei 80, ich bei gefühlten 27. Selbst die Omi hat mehr drauf. Ich scheitere. Wieder kommt Ina. „Hoch damit. Hoch damit. Und durchdrücken. Schön machst du das." Aha, jetzt will sie sich einschleimen. Mir nicht sagen müssen, was für ein steifer Bock ich bin. Mich zum Wiederkommen animieren. Dabei bin ich nicht mal unsportlich, laufe Marathon und furchtbar gerne allen möglichen Bällen hinterher. Aber beweglich? Nee, bin ich wirklich nicht.
Spüre den Unterschied
„Du bist nur so alt, wie du dich fühlst", hat dieser Onkel Pilates gesagt, der Erfinder dieses Massenphänomens, Joseph heißt er, ein Düsseldorfer, 1926 nach New York ausgewandert. Ich hoffe, er irrt, sonst bin ich heute nicht 28, sondern 60. Nach 13 Übungen war's das. „Wir sehn uns nächste Woche", sagt Ina. 15 Frauen nicken. Sie lieben Pilates, sind jetzt total durchgedehnt, entspannt und fröhlich, wie Ina. 10 von ihnen bleiben noch, machen mit bei Inas nächstem Abenteuer: Step-Aerobic. Ich gehe duschen.
Als ich mich von der netten Omi erst moralisch aufbauen lasse und dann verabschiede und leise verdrücken will, ruft mir Ina hinterher. „Und, wie geht's?" „Gut, danke. Hat Spaß gemacht." „Freut mich. Und übrigens: Hoffnungslos bist du wirklich nicht." Pilates sagt: „Nach zehn Stunden spüren sie den Unterschied. Nach 20 Stunden sehen sie den Unterschied. Und nach 30 haben sie einen neuen Körper." Ina sagt: „Du wirst sehn, heute Nachmittag fühlst du dich schon besser." Ich schmunzle, aber nur ein paar Stunden. Dann stelle ich fest: Sie hat recht.

Bernd Salamon, Gewinner des Reportagepreises 2007 der ABP, war Volontär beim Sportmagazin Kicker. Er schrieb seine "allererste Ich-Reportage" im Rahmen des Seminars "Sportjournalismus".