Gewinner des Featurepreises 2014:
Der Cyborg-Moment
Mensch-Maschine-Mischwesen sind keine Fiktion mehr. Experten sehen darin die nächste Evolutionsstufe der Menschheit. Die Jagd um die Unsterblichkeit hat begonnen.
Von Benjamin Hartlmaier
Als Neil Harbisson die Bühne des Zündfunk Netzkongresses in München betritt, ist auf den ersten Blick klar, dass er anders ist. Vor seiner Stirn baumelt eine Kamera von der Größe eines Autoschlüssels, die an einer Antenne befestigt ist. Auf den ersten Blick erinnert er etwas an einen Tiefsee-Anglerfisch. „Ich kann den Schrei hören“, sagt Harbisson und meint damit das weltberühmte Gemälde von Edvard Munch.
Transhumanismus
Harbisson ist kein Phantast, er ist ein Cyborg. Seine Stirn-Kamera und ein Chip an seinem Hinterkopf erlauben es ihm, Farben zu hören. So kann er trotz seiner angeborenen totalen Farbenblindheit eine bunte Welt wahrnehmen. Noch sind Cyborgs bestenfalls eine gesellschaftliche Randgruppe. Doch das könnte sich nach Meinung einiger Experten schon bald ändern. Einer dieser Experten ist Ray Kurzweil. Er ist nicht nur technischer Leiter bei Google sondern gehört auch der Bewegung des Transhumanismus an. Als Anhänger dieser Strömung glaubt Kurzweil, dass der technische Fortschritt die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten auf eine neue evolutionäre Stufe heben wird. Ein noch ambitionierteres Ziel strebt eine transhumanistische Gruppierung aus Russland an: Ihr Ziel ist die Unsterblichkeit.
Die Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine steht gerade erst am Anfang. Und wie bei Neil Harbisson dient sie in der Regel dazu, körperliche Defizite auszugleichen: „Schon als Kind wollte ich meine Sinne erweitern, um wahrzunehmen, was ich nicht sehen konnte.“ Seit 2004 kann er es: Seitdem trägt er den Eyeborg, wie er seinen Farb-Ton-Wandler nennt, ohne Unterbrechung. Dass es sich dabei um weit mehr handelt, als um eine technische Spielerei, hat er eines Morgens beim Aufwachen bemerkt: „In der Nacht hatte ich zum ersten Mal Farben geträumt.
Der Cyborg-Moment
Dabei hatte nicht die Software, sondern mein Gehirn im Schlaf die entsprechenden Töne erzeugt. Das war der Moment, in dem ich eine sehr starke Verbindung zwischen der Kybernetik und meinem Organismus spürte.“ Es war sein Cyborg-Moment.
Bislang waren Mensch-Maschine-Mischwesen bei uns ausschließlich in der Popkultur anzutreffen: Der bekannteste Cyborg dürfte Darth Vader sein, der dunkle Jedi-Ritter aus den Star-Wars-Filmen. Fiktionale Cyborgs haben eine auffallende Gemeinsamkeit: In der Regel sind sie böse und bedrohlich. Das sieht Neil Harbisson anders. Für ihn ist es etwas ganz natürliches, ein Cyborg zu sein: „Die Sinne mit menschlichen Erfindungen zu erweitern, ist etwas sehr menschliches“, sagt er.
Über das, was Menschen natürlicherweise wahrnehmen, ist er bereits hinaus: Mittlerweile hat er den Eyeborg auch auf ultraviolettes Licht und Infrarotstrahlung programmiert: „Wenn ich in eine Bank gehe, kann ich hören, ob die Alarmanlage aktiviert ist, oder nicht. Meistens ist sie es nicht“, beschreibt er die Auswirkung seiner übermenschlichen Wahrnehmung. Diese Erweiterung seiner Sinne ist mehr als der bloße Ausgleich seiner Farbenblindheit.
Nano-Roboter in uns
Es ist das erklärte Ziel des Transhumanismus, den Menschen mittels Technologie zu erweitern und zu verbessern. Vordenker und prominentester Fürsprecher dieser Philosophie ist der US-Amerikaner Ray Kurzweil, technischer Leiter bei Google und Pionier auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Er träumt von einer noch viel tief greifenderen Verschmelzung von Mensch und Maschine als es bei Harbisson der Fall ist.
Für Kurzweil sind Cyborgs wie Harbisson die ersten Ausprägungen einer neuen Evolutionsstufe der Menschheit. Etwa im Jahr 2030 „wird nichtbiologische Intelligenz den Umfang und die Feinheit der menschlichen Intelligenz erreicht haben“, schreibt Kurzweil auf seiner Webseite. Intelligente Nano-Roboter sollen dann bereits tief in unsere Körper, unsere Gehirne und unsere Umwelt integriert sein. Das soll laut Kurzweil unter anderem „zu einer erheblich verlängerten Lebensdauer, sowie zu einer vollkommenen virtuellen Realität führen, die wie im Film „Matrix“ alle Sinne mit einbezieht.“
Für Transhumanisten wie Kurzweil steuert die immer schnellere technische Entwicklung unausweichlich auf ein ganz bestimmtes Ereignis zu: die Singularität. „Wir werden an einem Punkt ankommen“, schreibt Kurzweil, „an dem der technische Fortschritt so schnell sein wird, dass es nur noch einer erweiterten menschlichen Intelligenz gelingen wird, ihm zu folgen. Dieses Ereignis beschreibt die Singularität.“ Der Zeitpunkt, den Kurzweil für die Singularität errechnet hat, ist das Jahr 2045. Für ihn ergibt sich dieses Jahr aus dem exponentiellen Verlauf der bisherigen technischen Entwicklung. Kurzweil stützt sich dabei auf das bis heute ungebrochene Mooresche Gesetz, wonach sich Rechenleistung und Speicherkapazität von Computern alle zwölf bis 24 Monate verdoppeln.
Künstliches Gehirn – menschliche Persönlichkeit
Auf eine Singularität von weitaus bedeutenderem Ausmaß arbeitet derzeit ein russisches Projekt hin: Die 2045-Initiative will innerhalb der nächsten 32 Jahre nichts geringeres, als die Unsterblichkeit erreichen. Um das zu bewerkstelligen, hat die Initiative, die 2011 vom russischen Unternehmer Dmitry Itskov gegründet wurde, das Avatar-Projekt ins Leben gerufen. Ziel ist es, das menschliche Bewusstsein auf einen künstlichen Körper zu übertragen.
Bis 2020 will die Gruppe aus Wissenschaftlern, Unternehmern und Technikern Avatar A fertigstellen, eine Roboter-Kopie des menschlichen Körpers, die über eine Gehirn-Maschine-Schnittstelle per Gedanken ferngesteuert werden soll. 2025 folgt dann laut Plan Avatar B, ein Roboter-Körper, in den das menschliche Gehirn am Ende des biologischen Lebens eingepflanzt wird. Das Nachfolgemodell – Avatar C – soll bereits mit einem künstlichen Gehirn ausgestattet sein, in das die Persönlichkeit nach dem Tod hochgeladen wird. Spätestens im Jahr 2045 sollen die Träger des menschlichen Geistes komplett ohne Körperlichkeit auskommen und nur noch als Hologramme existieren. Ein Werbevideo auf der Webseite der Initiative spricht an dieser Stelle von Cyber-Unsterblichkeit.
„Es ist verlockend, Transhumanismus als eine Art seltsamen Kult abzutun, der Science-Fiction etwas zu ernst nimmt“, schreibt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in einem Essay über diese Strömung. Für ihn ist der Transhumanismus „die gefährlichste Idee der Welt.“ In ihrem Kern strebt diese Denkschule laut Fukuyama eine Veränderung der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen an. Deshalb warnt er vor einer Spaltung der Gesellschaft, sollten die transhumanistischen Pläne Wirklichkeit werden: „Wenn wir anfangen, uns selbst in etwas Höheres umzuformen, welche Rechte werden diese verbesserten Kreaturen dann für sich einfordern, und welche Rechte werden sie im Vergleich zu denjenigen haben, die auf der Strecke bleiben?“ Im Hinblick auf die Menschen in den ärmeren Regionen der Welt, die sich die technologischen Wunder nicht werden leisten können, wird für Fukuyama „die Gefahr für die Idee der Gleichheit sogar noch bedrohlicher.“
Für die Rechte von Cyborgs kämpft Neil Harbisson bereits jetzt. Zu diesem Zweck hat er 2010 die Cyborg Foundation gegründet. Einen ersten Erfolg konnte er bereits verbuchen. Als sein Pass auslief, verboten ihm die Behörden zunächst, den Eyeborg auf dem Passbild zu tragen, da elektronische Geräte dort nicht erlaubt seien. „Ich musste den Beamten erklären, dass es sich dabei um einen Teil meines Körpers handelt,“ erinnert sich Harbisson. Nach einigem Hin und Her konnte er die Behörden schließlich überzeugen: Jetzt ist er der erste offiziell anerkannte Cyborg der Welt.


Benjamin Hartlmaier ist Volontär beim Magazin CHIP in München. Das Feature "Der Cyborg-Moment" schrieb er im Grundkurs "Magazinjournalismus II".

Der Cyborg-Mann Neil Harbisson.