Gewinner Reportagepreis 2014

Drei Jahre und ein Tag

Handwerksgeselle auf der Walz


Sommer 2009. Zum Abschied schmiert ihm die Mutter Stullen. Am Ortsschild trinkt Robert eine halbe Flasche Schnaps. Dann läuft der junge Dachdecker los, ohne sich noch einmal umzudrehen - so will es die Walz-Tradition.

 

Eine Reportage von Oliver Hollenstein

Die Kellertür knarzt, Schritte, der Lichtkegel einer Taschenlampe. "Polizei, stehen Sie auf!", ruft eine Frauenstimme. Es muss kurz nach sechs Uhr sein, der Kopf dröhnt, zu viel Bier, viel zu viel Schnaps, viel zu wenig Schlaf. Robert ist hellwach. Er steht auf, greift neben sich, setzt sich seinen Zylinder auf, zieht seine Jacke über Hemd und Weste und streckt der Polizistin die Hand entgegen. "Moinsen! Ich bin Robert, meines Zeichens Wandergeselle im Schacht der Fremden Freiheitsbrüder. Seid gegrüßt!"

Fast vier Jahre tippelt Robert nun, sein Nachname spielt deswegen keine Rolle mehr. Tippelei, so nennen Wandergesellen ihre Reise, sich selbst bezeichnen sie als Fremde. Die Walz der Handwerksgesellen ist die Urform des Work-and-Travel.

Mindestens drei Jahre und einen Tag reisen die Gesellen ohne Geld um die Welt. Vordergründig geht es darum, Handwerkstechniken zu lernen. Doch viele der Gesellen prägt die asketisch-exzessive Reise fürs Leben. Ein Ausflug in eine Welt ohne Handy, ohne Plan und ohne Zuhause.

Immer auf der Suche

14 Uhr, ein Mittwochnachmittag im Frühsommer, Autobahnraststätte Lehrter See bei Hannover. Robert startet zur letzten großen Etappe seiner Reise, er will nach Köln trampen. Und dabei duldet er eine seltene Ausnahme: Er lässt sich von einem Kuhkopp begleiten, so nennen die Fremden Nicht-Wandergesellen.

Robert stammt aus einem kleinen Dorf in Nordhessen. In seiner Jugend war er Punk, später geriet er in die Gesellschaft rechter Kameraden. Er war immer auf der Suche, immer leicht beeinflussbar und oft in Schwierigkeiten. In wenigen Wochen wird Robert in seine Heimat zurückkehren, die er während seiner Wanderung nicht betreten durfte. Als anderer Mensch, sagt er selbst.

Es gibt viele Mythen rund um die Walz. Oft geht es dabei um Ehre, Männlichkeit, Trinkfestigkeit. Und wie alle Mythen lebt auch die Tippelei von der Verschwiegenheit. Nicht jeder kann einfach Wandergeselle werden. Man muss Handwerksgeselle sein, unverheiratet, kinderlos. Aber vor allem braucht man einen Altgesellen, der einen abholt, wie die Gesellen sagen, und einem Riten und Sprache beibringt. Am Ende erreicht der Novize dann die Ehrbarkeit, er gehört dazu.

Robert wollte nach seiner Dachdeckerlehre eigentlich mit einem Kumpel ein bisschen durch die Welt reisen. Doch der schwängerte seine Freundin. Von der Walz hatte Robert in der Berufsschule gehört. Er besuchte ein Treffen der Wandergesellen. Es gab Bier. Nun reiste er regelmäßig zu den Treffen. Irgendwann, in Bielefeld, traf er Johannes. Er fragte: "Holst du mich ab?" Der sagte: "Klar."

290 Kilometer sind es von Hannover nach Köln. "Vielleicht finden wir einen, der durchfährt", sagt Robert. Er ist 27 Jahre alt, trägt Vollbart, sein Gesicht darunter hat jungenhafte Züge. "Du musst die Leute direkt ansprechen", sagt er und läuft auf ein Pärchen an der Tankstelle zu. Robert hat eine schlaksige Figur. Er schlurft mehr als er läuft, meist mit den Hände in den Hosentaschen. Das erinnert ein wenig an James Dean, ein wenig an einen Hiphopper in Handwerkerkluft.

Acht Knöpfe, acht Arbeitsstunden

Das Leder seiner Kluft ist im Lauf der Jahre ausgebleicht. Inzwischen ist es eher braun als schwarz. Schwarz ist die Farbe der Holzberufe. Das ist strikt geregelt. Die Weste hat acht Knöpfe, sie symbolisieren die acht Arbeitsstunden pro Tag. Die Jacke sechs, die sechs Arbeitstage. Die drei Knöpfe an den Ärmeln stehen links für drei Jahre Lehre, rechts für drei Jahre Wanderschaft.

Roberts Schlips ist rot. Er ist das Zeichen der Ehrbarkeit. Rot ist die Farbe des Schachts, der Wandervereinigung, der er angehört: den Fremden Freiheitsbrüdern.  Am Anfang tragen die Wandergesellen keinen Schlips. Sie müssen die Initiationsriten überstehen, sich erst einmal als ehrbar erweisen.

Für Robert begann die Bewährung am 4. Juli 2009 mit einem blutigen Ritual. Es war seine Abschiedsfeier. Zu später Stunde packten ihn die vier Gesellen, die ihn aus der Heimat abholten. Er durfte noch eine Flasche Korn herunterstürzen, dann drückten sie seinen Kopf auf einen Hauklotz. Johannes, sein Altgeselle, nahm einen selbstgeschmiedeten Nagel und schlug ihn durch Roberts linkes Ohrläppchen. Danach gehörte er dazu.

Die Fremden dürfen kein Handy besitzen, keine größeren Mengen Bargeld, öffentliche Verkehrsmittel sind verpönt. Trampen ist für sie Alltag. "Manchmal dauert es halt etwas länger", sagt Robert. Seit 40 Minuten steht er jetzt an der Raststätte Lehrter See. Mehr als 20 Fahrer hat er angesprochen.

"Rappelvoll, sonst gerne", sagt ein älterer Mann und steigt zu seiner Frau in seinen leeren schwarzen Mercedes-Kombi. "Alles voll, sorry", sagt eine junge Frau und schaut auf die leere Rücksitzbank ihres VW Sharan.

Ihr Gepäck wickeln die Wandergesellen in Tücher, die sie dann zu einem Bündel binden. Charlottenburger, kurz Charly, nennen sie das. Der Inhalt bei Robert ist übersichtlich: ein Schlafsack, ein Schieferhammer, eine Haubrücke, ein Latthammer, vier Boxershorts, vier Paar Socken, zwei T-Shirts, eine Badehose, eine Hose, ein Hemd, eine Weste, ein Hut. Robert hat gelernt, dass leichtes Gepäck wichtig ist auf der Reise. Als er loslief, hatte er noch doppelt so viel Gepäck dabei.

Der erste Tag seines neuen Lebens begann damals mit einem letzten Frühstück bei seiner Mutter. Sie hatte Käse- und Salami-Stullen geschmiert. Während der Reise dürfen die Gesellen ihrem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer kommen. Robert hat in seiner Wanderkarte mit Filzstift einen roten Kreis um den Ort gemalt, in der Mitte ist ein Totenkopf.

Der Abschied erfolgt am Ortsausgang. Erst gräbt der Junggeselle ein 80 Zentimeter tiefes Loch, dabei trinkt er eine halbe Flasche Schnaps. Die Flasche wird verschlossen und eingegraben. Die Familie hilft dem Novizen schließlich, aufs Ortsschild zu klettern. Auf der anderen Seite lässt er sich in die Arme der Gesellen herunterfallen. Dann läuft man los, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wie es bei Robert war? "Ehrlich gesagt war ich so betrunken, dass ich mich nicht mehr an so viel erinnere."

"Das ist geil, solange man ungebunden ist"

14.45 Uhr. Ein holländischer Eisenhändler auf dem Rückweg aus Polen hat Platz. Er fährt nicht weit Richtung Köln, aber immerhin bis zur übernächsten Raststätte. Schritt für Schritt, ohne größeren Plan oder Sicherheit, das ist das Leben der Wandergesellen. "Das ist geil, solange man ungebunden ist", sagt Robert.

Er war es die ersten vier Wochen seiner Reise. Dann besuchte er ein Punkfestival an der Ostsee. Dort traf er Annett, angehende Tierärztin aus Hannover. Sie quatschten, sie tanzten. Und als Annett sich am nächsten Tag nicht in der Lage sah, ihr Auto zurück nach Hannover zu fahren, übernahm Robert das. Von da an waren sie ein Paar.

"Das ist schon schwer, wenn du dich nur alle paar Monate sehen kannst, nicht telefonieren, nicht SMS schreiben", sagt Annett. Und Robert sagt: "Klar gab es Tage, da habe ich echt gezweifelt, ob ich weitermachen soll."

16.20 Uhr. Die Fahrt endet an der Raststätte Auetal zwischen Hannover und Bielefeld. Es dauert nur fünf Minuten, bis Robert einen Handelsvertreter für Badeinrichtungen überzeugt hat. Ein schwarzer Mercedes mit Ledersitzen, der Vertreter hat seine grauen Haare nach hinten gegelt, trägt Jeans zum Hemd.

"Sieht man immer seltener, so was", sagt er und meint wohl Robert. "Handwerk ist ja sowieso auf dem absteigenden Ast, was? Finde mal jemand, der noch 'ne Silikonfuge machen kann." Robert sitzt auf dem Beifahrersitz, den Wanderstock zwischen den Beinen, den Zylinder auf die Oberschenkel gelegt. Er schaut nach vorn. Manchmal sagt er: "Jou."

Mythen um Alkoholexzesse und Lagerfeuerromantik

Robert ist kein großer Redner. Obwohl er ständig Fragen beantworten muss, bleiben seine Geschichten oft im Abstrakten. "Ich spul halt meine Kassette ab", sagt er. Im Auto kommen ohnehin immer die gleichen Fragen. Wie lang bist du schon unterwegs? "In ein paar Wochen vier Jahre." Wie viele Wandergesellen gibt es? "Weltweit etwa 600."

Viele Mythen der Wandergesellen drehen sich um Alkoholexzesse und Lagerfeuerromantik. Etwa die Hälfte der Reise ist allerdings deutlich nüchterner, sagt Robert. Die Gesellen leben dann wochenlang in Monteurswohnungen, arbeiten auf Lohnsteuerkarte und werden nach Tarif bezahlt. Um das Arbeiten ging es ursprünglich einmal, als die Wanderjahre noch Voraussetzung für die Meisterprüfung waren.

"Du reist, um zu arbeiten. Und du arbeitest, um zu reisen", das ist auch so ein Satz von Roberts Kassette. "Man sieht halt 'ne Menge", sagt er. Dänemark, Slowenien, Slowakei, Spanien, die Kanaren, England, Schottland, Irland, Wales, Tunesien, Brasilien, Argentinien, Paraguay, Bolivien, Chile, Uruguay, Madagaskar und Hawaii.

Als Dachdecker kann man im Winter in Deutschland oft nicht arbeiten. "Deswegen: Im Sommer malochen, Geld sparen, im Winter raus", sagt Robert. Was hat ihn am meisten verändert? "Die Armut in Südamerika." Kinder, die auf Müllkippen spielen. Junge Mädchen, die sich für ein paar Euro prostituieren. "Da siehste, wie scheißgut es uns geht."

19.10 Uhr. Raststätte Remscheid, fast in Köln. Eine ältere Frau spricht Robert an. "Wo wollen Sie hin, kann ich Sie mitnehmen?" Die Frau fährt einen silbernen Ford, eine CD mit Entspannungsmusik dudelt im Hintergrund. "Da gibt es doch dieses Lied von Reinhard Mey: Drei Jahre und einen Tag. Das ist schön", sagt sie, links überholen Lastwagen. "Ja, das stimmt", sagt Robert. "Sein Sohn war auf der Walz, im gleichen Schacht wie ich."

Es ist das erste Mal, dass Robert nicht seine Kassette abspult. Er fängt an zu erzählen, von der Freiheit, dem Leben ohne Geld, aber auch von den strengen Traditionen. "Da verändert man sich. Das vergisst man nie wieder."

Es gibt eine Zeit, die hat Robert mehr geprägt als alle anderen Erfahrungen. Das merkt man, wenn er erzählt. Robert redet plötzlich anders, ruhiger, vernünftiger. Es war im Frühjahr 2012, als er Altgeselle wurde. Er war jetzt der Erfahrene, der einem jungen Gesellen die Gesetze der Walz beibrachte.

Schützling Samuel

"Da musste er plötzlich Verantwortung übernehmen", sagt Roberts Bruder. Die Rituale, die Regeln, all das musste er seinem Schützling Samuel weitergeben. Er war es, der ihm den Nagel durchs Ohr schlug, der ihn ermunterte, nicht aufzugeben, der aber auch für die Ehre seines Schützlings bürgte.

19.54 Uhr. 300 Meter vor dem Kölner Dom endet die Reise. Was nun? "Zu unserem Treffpunkt", sagt Robert. In jeder größeren Stadt haben die Gesellen eine Kneipe. Hier kann man Kontakte knüpfen, Arbeit und Schlafplätze finden. Eine Stunde später steht Robert im Limes, Köln Mühlheim. An den roten Wänden hängen St. Pauli-Flaggen, Flyer kündigen die Band "Die Schwulen Nuttenbullen" an, es wird Astra ausgeschenkt, der Hausschnaps heißt "Fuck off". Andere Wandergesellen sind nicht da. "Falscher Tag, Jungens", sagt die Kellnerin. "Morgen ist wieder mehr los."

Robert schmeißt seinen Charly und seinen Wanderstock auf die Fensterbank, setzt sich an die Bar, legt seinen Hut auf den Tresen und bestellt Astra. Nach dem dritten Bier fängt er an, über seine Heimat zu reden. Will er eigentlich zurück? "Nee, das passt nicht mehr", sagt er. "Ehrlich gesagt, habe ich sogar ein bisschen Schiss." Vieles von dem, was früher seine Welt ausmachte, komme ihm heute ziemlich kleingeistig vor.

Eins wird Robert seinen Freunden nicht erzählen

Einige Wochen später, an einem sonnigen Juli-Samstag, wird er das nicht zeigen. Mehr als 250 Freunde und Bekannte werden Robert am Ortseingang seines Heimatdorfes erwarten. Diesmal werden ihm die Gesellen aufs Ortsschild helfen, bevor er sich auf der anderen Seite in die Arme seiner alten Freunde fallen lassen wird. Er wird die halbe Flasche Schnaps ausgraben, 80 Zentimeter werden ihm dabei ziemlich tief vorkommen. Dann wird bis zum Morgen gefeiert werden.

Eines wird Robert vielen alten Freunden aber erst einmal nicht erzählen: dass er das Dorf schnell wieder verlassen will. Deswegen ist er nach Köln gereist, er sucht zusammen mit Annett eine Wohnung. "Ich will studieren", sagt Robert im Limes. Er will ein triales Studium machen: Zimmermannslehre, Zimmermannsmeisterprüfung, dazu Bachelor in Handwerksmanagement. Vier Jahre dauert das.

"Eins habe ich gemerkt auf der Wanderung", sagt er. "Auf dem Dach stehen ist zu anstrengend. Das hältst du nicht bis zur Rente durch."

Es ist inzwischen weit nach vier Uhr morgens, mitten in der Woche. Die, die noch im Limes sitzen, haben den roten und den grünen "Fuck Off" probiert. Mehrmals. An der Theke streiten sich zwei, wer mit der Frau nach Hause darf, die gerade aufs Klo gegangen ist. Beide argumentieren stichhaltig: Der eine ist neulich verlassen worden, der andere hat eine günstige Wohnung.

"Keller sind immer eine Möglichkeit"

Robert hat nichts für die Nacht. Es gibt zwei gängige Strategien für solche Situationen: 1000-Sterne-Hotel, also draußen schlafen. EC-Hotel, der Schalterraum einer Bank. Wenige Meter von der Kneipe entfernt ist ein Spielplatz, die Klettergerüste bieten gute Liegeflächen. Robert legt sich darauf, doch es ist zu kalt.

"Keller sind auch immer eine Möglichkeit." Es ist kurz nach fünf. Robert lauert an einem Mehrfamilienhaus, bis ein Mann aus der Tür kommt. Dann huscht er ins Haus und schlägt im Keller sein Lager auf.

Ein Bewohner hat das offenbar gehört und die Polizei gerufen. Die beiden Polizistinnen sind nicht älter als Robert. "Fehlalarm. Ein Wandergeselle und ein Journalist", funkt die eine an die Zentrale, während die andere sich mit Robert über seine Studienpläne unterhält. "Ich würde nicht hier in diese Gegend ziehen", sagt sie. "Hier leben komische Leute."

Robert nickt. "Jou, bedankt." Dann packt er seinen Charly, seinen Stock, zückt noch einmal den Zylinder. Und geht.

Oliver Hollenstein, Jahrgang 1985, geboren und aufgewachsen in Nordhessen. Studium der Soziologie, Wirtschaft und Psychologie in Jena. Nebenher als Reporter für dpa erst in Thüringen, später in Großbritannien unterwegs. Praktika bei Spiegel, Zeit, FAZ und FR. Seit Januar 2012 Volontär bei der Süddeutschen Zeitung.

Ab Anfang April 2014 arbeitet er für die Hamburg-Ausgabe der ZEIT.

Außerdem ist er Preisträger des Axel Springer Preises für junge Journalisten 2013 in der kategorie Print, Lokale/Regionale Beiträge für die SZ-Reportage "Das Knast-Kartell".