Gewinnerin des Featurepreises 2011

Pädophile gelten als Inbegriff des Bösen: Kinderschänder. Männer, die mit ihrem Drang mit Sex zu Kindern verantwortlich umgehen wollen, haben es doppelt schwer. In Regensburg finden sie jetzt Hilfe - vor der Tat.

Verteufelt und verharmlost  

Von Katharina Blum

Stefan Aumers Herz beginnt zu rasen, wenn er an den Sommerurlaub an der Ostseeküste denkt. Wie die Mädchen, sommerlich leicht bekleidet, im warmen Sand Volleyball spielen, die Sonne auf ihrer nackten Haut glitzert. Er versucht wegzugucken, schafft es aber nicht. Er möchte ihnen die Badeanzüge abstreifen, die zarten Körper streicheln. Die Mädchen, die ihn in heillose Aufregung versetzen, sind jung, viel zu jung. „Ich finde meine Neigung zum Kotzen“, sagt er.

Seit den Ferien an der Ostsee vor einigen Jahren wünscht sich Aumer Geschlechtsverkehr mit Mädchen von fünf bis acht Jahren. Als er seinem Arzt davon erzählt, sagt dieser: „Schaffen Sie sich eine Freundin an, dann ergibt sich das von alleine.“ Aber die Sehnsucht blieb. Am Schluss dachte Aumer immer öfter an Selbstmord. Stefan Aumer, 26, Student aus Berlin, ist pädophil. Als ihm die eigenen Fantasien ungeheuer wurden, er aber nicht zum Ungeheuer werden wollte, griff er zum Telefonhörer.

Über 1000 Männer haben in den vergangenen fünf Jahren wie Aumer die Nummern 030/450529450 oder 0431/5973651 gewählt. Am anderen Ende der Leitung: Ein Therapeut des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“. An der Berliner Charité erhalten Männer seit 2005 anonym Hilfe, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und befürchten, dass sie sich eines Tages an einem Kind vergreifen könnten. Im März 2009 eröffnete eine Ambulanz in Kiel, seit Anfang September gibt es eine weitere an der Uni Regensburg.

Pädophilie ist in Deutschlands eines der größten Tabus, wer die Neigung in sich spürt, ist meist hilflos und auf sich allein gestellt. Auf die Titelseiten schafft es nur das Thema Kindesmissbrauch. Kaum ein Delikt löst mehr Abscheu aus. Vom Kinderficker, Sexmonster oder der Bestie schreiben in solchen Fällen nicht nur die Boulevardmedien.

Die medizinische Forschung geht davon aus, dass circa ein Prozent der Männer pädophil orientiert sind – das wären in Deutschland 300 000 Personen. Der Anteil pädophiler Frauen ist verschwindend gering. Pädophile haben sexuelle Neigungen gegenüber Kindern oder Jugendlichen in der Frühpubertät. In der Adoleszenz manifestiert sich, wie ein Mensch sexuell ausgerichtet ist. 

Seine Klassenkameraden gehen in die Disko, er guckt Kinderfilme. Auch Marco weiß seit der Pubertät, dass er anders ist. Mit 16 hat er sich das erste Mal in ein Kind verliebt. Marco hat lange gewartet. Gewartet, dass die Fantasien verschwinden. So wie es die Therapeutin versprochen hatte. „Man sagt sich, die Frau versteht etwas von ihrem Beruf und wird sicher recht haben. Andererseits spürt man, dass es so einfach nicht sein wird“, erinnert sich Marco. Mit 18 kommt er für zwei Jahre wegen Depressionen in ein Krankenhaus.

Marco, mittlerweile ein Mittdreißiger mit aschblondem Haar und faltenfreier Haut, hat als erwachsener Mann nie ein Kind sexuell belästigt. Aber Jungen erregen ihn noch immer. Und Marco weiß: Das bleibt, das wird sich nie ändern. 2004 gründet Marco deshalb den Verein „Verantwortung für Kinder“, später noch die Homepage „Schicksal und Herausforderung“. Anlaufstellen, an die sich pädophile Männer wenden können, die Sex mit Kindern strikt ablehnen.

Marco ist einer der wenigen, der mit den Medien über seine Neigung, seine Fantasien spricht. Im Internet gibt es inzwischen jede Menge von seinem Intimleben zu lesen. Zum Beispiel, dass Kinderpornos für ihn tabu sind, Nacktfotos ebenfalls. Es aber okay sei, den Quelle-Katalog mit den kleinen Jungs in Unterwäsche zu nehmen, um zu onanieren. Dass er sich aber auch manchmal die Frage stellt, was wohl die Mutter eines solchen Kindes dazu sagen würde. „Aber irgendwie muss ich meinen Trieb ja ablassen.“

Die Ursachen der Pädophilie sind der Wissenschaft noch immer ein Rätsel. „Wer erklären kann, wie die pädophile Neigung entsteht, der ist ein Kandidat für den Nobelpreis“, hat Professor Klaus Michael Beier, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Berliner Universitätsklinikums Charite, bereits vor einigen Jahren gesagt. Konsens ist heute lediglich, dass Pädophilie als eine Sexualform gilt, die nicht frei wählbar ist, genauso wenig wie Hetero- oder Homosexualität. Eine Störung, die in gleicher Weise durch biologische, psychologische und soziologische Faktoren bestimmt ist. Auch Diagnostik und Behandlung von Pädophilie sind weder Gegenstand einer Facharzt- oder Fachtherapeutenausbildung, noch in den Leistungskatalogen der Krankenkassen gelistet. Viele Ärzte und Therapeuten weisen Menschen wie Aumer oder Marco deshalb ab oder lassen sich von der Sprechstundenhilfe Adressen von Bewährungshelfern heraussuchen – Bewährungshelfer für Kinderschänder. 

Beim Projekt „Kein Täter werden“ geht man einen anderen Weg. Der Grundgedanke: Aus Fantasien dürfen keine Taten werden – dann gibt es auch keine Opfer. Ein schmaler Grat.

In Regensburg haben sich bislang 17 Interessierte gemeldet. Nach der Diagnostik beginnt Ende Oktober zunächst die Einzel-, später dann die Gruppentherapie. Dort müssen die Männer erstmals vor anderen bekennen: „Ja, ich bin ein Pädophiler.“ 

Die erste Sitzung ist für viele ein Schlag ins Gesicht, weiß der Kieler Sexualmediziner Professor Hartmut Bosinski. Dort erfahren die Patienten, dass sich die Veranlagung nicht einfach wegtherapieren lässt. „Diese Männer müssen lernen, dass diese Neigung - die sie sich ja nicht ausgesucht haben -, die lebenslang bestehende Achillesferse ihrer Persönlichkeit ist“, sagt Bosinski.

In den Sitzungen lernen die Männer deshalb, sich ohne schlechtes Gewissen in ihre Fantasien zurückzuziehen - ohne diese jemals auszuleben. Es werden Regeln aufgestellt, die das Leben erleichtern sollen. Die Patienten nehmen zum Beispiel einen „Notfallkoffer“ mit aus Gesprächen. Wie verhalte ich mich, wenn die Nachbarin darum bittet auf den Sohn aufzupassen, weil sie einen Arzttermin hat?

Häufig beobachten die Therapeuten kognitive Verzerrungen: Die Kinder wollen das, das mache ihnen doch Spaß, schließlich haben sie das auch mal erlebt. Aumer zum Beispiel rechtfertigte sein Verlangen an nackten Mädchenkörpern lange Zeit mit „einem verkappten wissenschaftlichem Interesse“, wie er sagt. Heute, nach 50 Sitzungen, schäme er sich dafür.

„Kein Täter werden“ ist aber kein Projekt, das überall nur Begeisterung auslöst. Norbert Denef etwa, Autor des autobiografischen Buches „Ich wurde missbraucht“, empörte sich im Frühjahr in der ZDF-Talkrunde bei Johannes B. Kerner, dass schon der Slogan „Lieben sie Kinder mehr als ihnen lieb ist?“ eine Verhöhnung der Opfer sei.  Der Staat solle die Steuergelder besser dafür verwenden, Opfern zu helfen. Als Kind wurde Denef über Jahre von einem Priester und einem kirchlichen Mitarbeiter missbraucht. Es ist die Zeit, von der er heute sagt, sie habe seine Seele getötet.

Bei Innocence in Danger, der Verein engagiert sich gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, sieht man das anders. „In der Therapie wird den Tätern schließlich nicht über den Kopf gestreichelt, und gesagt, du armer, armer Täter, du kannst ja nichts dafür“, erklärt Geschäftsführerin Julia von Weiler. Und: „Nicht jeder Pädophile missbraucht Kinder, und nicht jeder, der Kinder missbrauch ist pädophil.“ Missbrauch müsse auf allen Ebenen bekämpft werden. Nur wenn man Täterstrategien kennt, die Motivation der Täter begreift und Wege findet, sie von missbrauchendem Verhalten abzuhalten, kann es gelingen sexuellen Missbrauch zu verhindern, glaubt man bei Innocence in Danger.

Beschimpft werden Menschen wie Aumer oder Marco aber nicht nur als Kinderficker, Sexmonster oder Bestie, sondern auch als Verräter, Selbstbelügner oder als verklemmt und verbohrt. Bei der AG Pädo in Berlin zum Beispiel wird aus der Unveränderlichkeit einer pädophilen Veranlagung eine Rechtfertigung für Sex mit Kindern. Die AG sei eine Selbsthilfegruppe, ähnlich wie die Anonymen Alkoholiker, wie ein Mitbegründer kürzlich in einem Interview erklärte – nur müssten die Mitglieder nicht abstinent leben. Die Gruppe fordert stattdessen, Sex mit Kindern zu legalisieren. Wenn alles einvernehmlich abläuft, dem Kind kein Schaden entsteht.

„Solche Männer waren in der Therapie aber in der absoluten Minderheit“, sagt Aumer. Auch Marco betont: „Natürlich muss man Pädophile bestrafen, sobald sie sich sexuell an Kindern vergehen, da darf es keine falsch verstandene Toleranz geben.“ Solange sie aber gewillt seien, mit ihrer sexuellen Ausrichtung verantwortungsbewusst umzugehen, verdienen sie eine faire Chance und sollten behandelt werden wie jeder andere Mensch auch. Marco hat die Hoffnung in all den Jahren nicht aufgegeben, die Hoffnung auf ein Leben ohne gesellschaftliche Tabuisierung. Lieber heute als morgen würde er sein Synonym ablegen. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen und werde mir auch niemals etwas vorzuwerfen haben.“

Katharina Blum war Volontärin beim Miesbacher Merkur als sie 2011 den Featurepreises der ABP gewann.